Offener Brief an die Landesregierung Rheinland-Pfalz vom 6.5.2021

[schön formatiert als Google Doc]

und die Landtagsabgeordneten der Fraktionen CDU, SPD, FDP, GRÜNE des Landtages RLP

Für Schutz von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien in der Corona-Pandemie.

Für inzidenzabhängige Öffnung/Schließung der Bildungseinrichtungen nach RKI-Empfehlungen.

Für erfolgreichen Distanzunterricht.

Gegen Infektionsgefahr in Schulen und Kitas.

Koblenz, den 06.05.2021

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin Dreyer,

sehr geehrte Frau Ministerin Dr. Hubig,

sehr geehrte Abgeordnete des Landtages Rheinland-Pfalz,

In unserer Initiative Bildung Aber Sicher Rheinland-Pfalz sind Eltern von Kindern im Kita bis Schulalter, Erzieher*innen und Lehrkräfte aller Schularten aktiv. Die Landesregierung betont stets, dass Familien und junge Menschen eine Perspektive haben sollen und Kinder nicht zu Verlierern der Pandemie werden dürfen. Diese Ziele teilen wir. Jedoch sehen wir diese Ziele durch die aktuelle Politik der Landesregierung gefährdet.

Im Moment befinden wir uns noch mitten in der 3. Welle der Pandemie. Zuletzt sind insbesondere die Inzidenzen der Kinder und Jugendlichen stark angestiegen und liegen im ganzen Land deutlich über denen der Gesamtbevölkerung. Aus den Medien und unserem persönlichen Umfeld häufen sich Berichte, dass immer mehr jüngere Menschen schwer erkranken und in den Intensivstationen behandelt werden müssen. Deutschlandweit sind bereits mehr als 280 Fälle von PIMS [1], einer besonders schweren Spätfolge einer Corona-Infektion bei Kindern, aufgetreten. Die Aussage, dass Kinder keine signifikante Rolle im Pandemiegeschehen spielen ist wissenschaftlich nicht mehr haltbar [2]. Auch wird geschätzt, dass bis zu 10% der erkrankten Kinder und Erwachsenen trotz mildem oder gar symptomfreien Verlauf Langzeitbeeinträchtigungen wie LongCovid entwickeln [3]. Bei dieser noch wenig erforschten Krankheit werden erhebliche Einschränkungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und der Lebensqualität beobachtet. Auf Grund der vielen Erkrankungsfälle mussten an vielen Universitätskliniken bereits LongCovid-Sprechstunden eingerichtet werden. An der Uniklinik Jena gibt es sogar eine speziell für betroffene Kinder. 

Zum Glück gibt es mittlerweile wirksame Impfstoffe, jedoch werden die meisten Eltern noch längere Zeit nicht geimpft sein und ein vollständiger Impfschutz vor Ende des Schuljahrs ist kaum zu erwarten. Die Lehrkräfte und Erzieher*innen haben mittlerweile die Möglichkeit bekommen sich für Impftermine zu registrieren. Von einem vollständigen Impfschutz sind wir hier aber noch Wochen bis Monate entfernt. Die Gruppe der Kinder und Jugendlichen wird zurzeit noch komplett ausgeklammert. Zwar hat die Firma BioNTech angekündigt, dass ab Juni 2021 Kinder über 12 Jahren geimpft werden können, jedoch ist nicht davon auszugehen, dass diese Personengruppe bis zum Start des nächsten Schuljahres vollständig geimpft sein wird. Für jüngere Kinder wird eine Impfung frühestens im Herbst 2021 erwartet. Daher können Kitakinder und Schüler*innen im Moment nur durch Niedriginzidenzen und wirksame Hygienemaßnahmen geschützt werden. An genau diesen Punkten versagt daher unserer Einschätzung nach die derzeitige Strategie der Landesregierung.

Daher möchten wir im Folgenden unsere Forderungen in den beiden Bereichen Kitas und Schulen darlegen:

Grenzwerte für Präsenzunterricht und Notbetrieb in den Kitas

Wir fordern, dass die RKI-Empfehlungen für Schulen und Kindertagesstätten im Land RLP umgesetzt werden.

Die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts [4] für Schulen und Kindertagesstätten besagen, dass ab einer Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro Woche und 100.000 Einwohner Wechselunterricht in geteilten Klassen anzuordnen ist und ggf. nach Einschätzung des Gesundheitsamtes lokale Schulschließungen mit Distanzunterricht anzuordnen sind. In den Kitas ist ab diesem Wert eine strenge Kohortenbildung anzuordnen. Bei einer Inzidenz größer 100 ist der Distanzunterricht bzw. Notbetrieb in den Kitas zwingend anzuordnen. Das ist rechtlich möglich, da die Länder nach Infektionsschutzgesetz §28a eigene Regelungen erlassen können, die strenger als die „Bundesnotbremse“ sind. Auch sollten die Schul-/Kitaschließungen mindestens eine Inkubationsperiode des Virus von 14 Tagen dauern. Es ist unserer Ansicht nach wenig sinnvoll um einen Zielwert zu pendeln. Kurzfristiges Öffnen und Schließen, weil die Inzidenz gesunken ist, wie aktuell in Koblenz praktiziert, durchbricht weder wirkungsvoll die Infektionsketten, noch erhalten die Schulen und Eltern Planungssicherheit. Wir empfehlen weiterhin die Inzidenz der entsprechenden Altersgruppe für die Entscheidung zu berücksichtigen. Nur diese bildet die Infektionslage der betroffenen Altersgruppe korrekt ab. Eine Orientierung an der Gesamtinzidenz wird mit steigender Impfquote an älteren Einwohnern zu einem Problem werden. Die starke Konzentration des Infektionsgeschehens in den noch nicht geimpften Bevölkerungsgruppen wird dann durch die Gesamtinzidenz nicht mehr korrekt abgebildet. 

Testkonzept

Wir fordern verbindliche, mit medizinischem Sachverstand erstellte Testanweisungen zur Minimierung der Ansteckungsrisiken von Schüler*innen und Schulpersonal. Die Testpflicht muss auf Kitas ausgeweitet werden.

Wir begrüßen die Testpflicht an Schulen. Leider sind die verwendeten Antigen-Tests durch ihre hohe Falsch-Negativ-Rate kein ausreichend sicheres Instrument, um die Teilnahme ansteckender Personen am Unterricht effektiv zu verhindern. Die Tests im Klassenraum können bei unsachgemäßer Handhabung zu einer Infektionsquelle für alle Beteiligten werden. Wir fordern eine in Zusammenarbeit mit medizinischen Experten erstellte verbindliche Testanweisung, die Ansteckungsrisiken für beteiligte Schüler*innen, Lehrkräfte und Reinigungspersonal ausschließt. Die Selbsttestanleitung der Hersteller ist dafür nicht ausreichend. Idealerweise müssten die Tests von medizinisch geschultem Personal z.B. Apotheken oder freiwilligen des DRK durchgeführt werden. Die Tests müssen zu Unterrichtsbeginn durchgeführt und die Testergebnisse mitgeteilt werden. Es sind Handreichungen zu erarbeiten, wie mit positiv getesteten Schüler*innen umgegangen werden soll. Stigmatisierungen der Kinder und weitere Infektionsgefahr in der Wartezeit auf Erziehungsberechtigte sind unbedingt zu vermeiden. 

Die Testpflicht ist auf den Kitabereich auszuweiten. Aus der Praxis haben wir die Erfahrung, dass bei freiwilligen Tests weniger als die Hälfte der Eltern die Testerlaubnis erteilt. Da kleine Kinder den „Nasenbohrtest“ weder selbst durchführen können, noch es Erzieherinnen unter hygienischen und pädagogischen Gesichtspunkten zuzumuten ist, die Kinder so zu testen, empfehlen wir hier die sogenannten „Lolli-Tests“. 

Organisation des Distanzunterrichts

Wir fordern eine leistungsfähige digitale Infrastruktur für zuverlässigen Distanzunterricht in hoher Qualität und eine Verbesserung der pädagogischen Betreuung in Distanzunterricht und Notbetreuung.

Als ein Argument für den Präsenzunterricht auch bei sehr hohen Fallzahlen, wird immer genannt, dass der Distanzunterricht von schlechter Qualität sei. Die Plattformen zum Onlineunterricht laufen nicht stabil bzw. sind nicht für das hohe Nutzeraufkommen ausgelegt. Diese Baustellen müssen so schnell wie möglich behoben werden. Mangelnde digitale Infrastruktur und schlechter Online-Unterricht dürfen keine Ausrede für die Weiterführung von Präsenzunterricht bei hohen Infektionsrisiken sein. 

Die pädagogische Betreuung in der Notbetreuung muss verbessert werden. Es darf nicht sein, dass Kinder in der Notbetreuung keine pädagogische Hilfe bei ihren Arbeitsaufgaben erhalten. Den Schüler*innen in der Notbetreuung muss eine Teilnahme am Onlineunterricht ermöglicht werden. Es muss eine Unterstützung für Schüler mit Lernrückständen/Lernschwierigkeiten durch qualifizierte Lehrkräfte sowohl im Distanzunterricht als auch in der Notbetreuung gewährleistet werden.

Hygienekonzept und Luftfilter

Wir fordern eine Anpassung der Hygiene- und Lüftungskonzepte an den aktuellen Stand der Wissenschaft und Technik und den flächendeckenden Einsatz von Raumluftfilteranlagen. 

Ging man zu Anfang der Pandemie noch davon aus, dass die Virusausbreitung über Tröpfcheninfektion erfolgt, ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen, dass sich Covid-19 über Aerosole verbreitet. Insbesondere die Virusvariante B1.1.7 („Britische Mutation“) ist dabei deutlich ansteckender als der Wildtyp des Virus, der 2020 dominierte. B1.1.7 ist inzwischen für fast alle Infektionen im Land verantwortlich. Im Hygieneplan und den Handreichungen zum Lüften sind diese wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht ausreichend berücksichtigt. Die Handreichungen des Umweltbundesamtes sind inzwischen von Experten mehrerer Universitäten [5,6] und wissenschaftlichen Fachgesellschaften [7] widerlegt worden. Fensterlüftung ist keinesfalls ausreichend um die Virenkonzentration mit Raum soweit zu senken, dass eine Ansteckung über einen Unterrichtstag vermieden werden kann. Daher fordern wir die Anpassung des Lüftungskonzeptes und eine flächendeckende Ausrüstung der Schulen und Kitas mit Raumluftfilteranlagen. In Kitas, Grundschulen und Förderschulen ist jeder Klassen/Gruppenraum mit Raumluftfilteranlagen auszustatten. In Förderschulen müssen auch die Therapieräume mit Raumluftfilteranlagen ausgestattet werden. Es reicht hier nicht, wenn das Land Finanzierungszuschüsse zusagt. Die Geräte müssen tatsächlich beschafft und auch der Betrieb und die Wartung gesichert sein. Bis dies umgesetzt ist, muss die Unterrichtsgestaltung an ein sicheres Lüftungskonzept angepasst werden. Ziel muss es sein mit einem möglichst effektiven Lüftungskonzept, Ansteckungen durch aerosolbeladene Luft zu vermeiden. Unser Ziel kann nicht sein, Unterricht im 45min-Rhythmus möglichst ungestört von Hygienemaßnahmen stattfinden zu lassen. 

Befreiung von der Präsenzpflicht auf Antrag der Eltern

Wir fordern eine Befreiung von der Präsenzpflicht auf Antrag der Eltern.

Im Moment ist die Befreiung von der Präsenzpflicht nur mit ärztlichem Attest, unter Angabe der Erkrankung und für jeweils drei Monate möglich. Dies verstößt gegen die Persönlichkeitsrechte der Schüler*innen. Zudem gibt es Schüler*innen in deren Haushalt Familienmitglieder mit einem erhöhten Risiko für eine schwere Erkrankung leben. Kinder können die Infektion aus der Schule an ihre Familienmitglieder übertragen. Die Veröffentlichung einer Erkrankung eines Haushaltsangehörigen gegenüber der Schule ist nicht mit den Persönlichkeitsrechten vereinbar. Weiterhin besteht auch für nicht vorerkrankte Kinder ein Risiko von zirka 10% an LongCovid-Symptom zu erkranken. Wir fordern daher die Aussetzung der Präsenzpflicht auf Antrag der Eltern ohne Angabe eines Grundes. Dies soll möglich sein, bis alle Kinder ein Impfangebot erhalten haben. 

Wir wünschen uns die bestmögliche Bildung für unsere Kinder in Pandemiezeiten und für die Mitarbeiter in Schulen und Kitas Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit nicht gefährden. Abhängig von den Infektionszahlen ist jedoch die beste Bildung nur im Distanzunterricht sicher. Wir wehren uns gegen sie Ausspielung von Bildung und Gesundheitsschutz. Wir wehren uns gegen die wissenschaftlich widerlegten Ansichten, dass sich Kinder erstens nicht infizieren, sie zweitens das Virus nicht weitergeben und drittens nicht schwer erkranken können. Wir wehren uns dagegen, die Lasten der Pandemiebewältigung und das Infektionsrisiko einseitig den Familien zuzuschreiben. Wir wehren uns gegen die ethisch fragwürdige Ansicht des Beraters der Landesregierung Prof. em. Zepp, das Kinder über ihre Infektion zur natürlichen Herdenimmunität beitragen. Die WHO stuft den Ansatz Herdenimmunität über natürliche Exposition gegenüber dem Virus als wissenschaftlich problematisch und unethisch ein [8]. Das Virus durch eine Population durchlaufen zu lassen, führe in allen Altersgruppen und unabhängig von deren Gesundheitsstatus zu unnötigen Infektionen, Leiden und Tod. Diese Strategie wäre außerdem nicht nachhaltig, da sich Menschen mehrmals mit dem SARS-CoV2-Virus anstecken können. Die Erfahrung Brasiliens, wo an der Mutation P1 tausende Minderjährige gestorben sind, sollte uns eine Lehre sein. Da Kinder noch lange nicht geimpft werden können und sich die Pandemie aller Voraussicht nach noch bis ins Jahr 2022 hinziehen wird, sind die Infektionszahlen sofort schnell zu senken und Vorkehrungen für das nächste Schuljahr bereits jetzt zu treffen.

Mit freundlichen Grüßen,

für die Initiative Bildung Aber Sicher Rheinland Pfalz

Silke Weiland-Hübner Alexandra Freudenberg Stefan Scheinert

[1] Pädiatrisches Inflammatorisches Multiorgan Syndrom
[2] „Infobrief –Zur Rolle von Kindern im Pandemiegeschehen“, WD 8 – 3010 – 035/21 Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Deutscher Bundestag 2021
[3] Sudre, C.H., Murray, B., Varsavsky, T. et al. Attributes and predictors of long COVID. Nat Med 27, 626–631 (2021). https://doi.org/10.1038/s41591-021-01292-y
[4] Präventionsmaßnahmen in Schulen während der COVID-19-Pandemie, Empfehlungen des Robert Koch-Instituts für Schulen,12.10.2020
[5] Martin Kriegel „Anzahl der mit SARS-CoV-2 beladenen Partikel in der Raumluft und deren eingeatmete Menge, sowie die Bewertung des Infektionsrisikos, sich darüber mit Covid-19 anzustecken“ Technische Universität Berlin, Hermann-Rietschel-Institut; 26.10.2020
[6] Christian J. Kähler „Kommentar zum Konzept „Lüften in Schulen“ vom Umweltbundesamt“ Universität der Bundeswehr München, 30.10.2020
[7] „Ansteckungsgefahren aus Aerosolwissenschaftlicher Perspektive“ Offener Brief der Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF), 11. April 2021
[8] „Coronavirus disease (COVID-19): Herd immuity, lockdowns and COVID-19“ World Health Organization, 31. December 2020

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